Soeben ging die zweite Generalprobe im Pala Olimpico über die Bühne, bei der in diesen Minuten nun schon die Hälfte der im Becher befindlichen Würfel fallen. Sehr viele Italiener nutzten die etwas (!) günstigeren Preise, um sich die sogenannte Juryshow live anzuschauen. Tatsächlich blieben nur vereinzelt Plätze frei, ansonsten war die Halle so voll wie bisher noch nicht. Unglaublich wieder die Stimmung, die von den meist sehr jungen Italienerinnen und Italienern ausgeht. Heute ist mir besonders aufgefallen, dass in den Juryshows eine noch größere Begeisterung herrscht als in den Liveshows. Möglicherweise sind auch in den TV-Shows etliche Tickets an Sponsoren gegangen oder besser betuchte Turiner, denen das Event, welches sie gerade besuchen, nicht so wichtig ist, Hauptsache sie sind dabei.
Es kam, anders als bei der ersten Probe am Nachmittag, zu keinen größeren Pannen. Selbst bei Schweden lief es diesmal rund, was ja schon einem Wunder gleicht. Laura Pausini stand nun auch bei der Eröffnung selbst auf der Bühne und meine Sitznachbarinnen konnten sehr textsicher jeden der angespielten Songs mitsingen, was mir als großer Pausini-Fan nur fast gelang.
Kurz dachte man, dass die Tribünen unter der Last der hüpfenden spanischen Fans bald in sich zusammenfallen werden. In jedem Jahr wird von den Spaniern ihr Act frenetisch gefeiert, in diesem Jahr ganz besonders und zu Recht. Man mag da gar nicht mehr glauben, dass noch Tage nach dem Sieg Chanels beim Benidorm-Fest eben diese Fans Kopf standen, aber nicht aus Begeisterung. Dies erwähnt man besser nicht mehr dieser Tage. Chanel war auch heute Abend wieder eine Liga für sich. Man muss den vorhersehbaren Song nicht mögen, um von dem Gesamtpaket begeistert zu sein.
Mahmood und Blanco führen seit ihrer ersten Probe alle an der Modenase herum. Wieder waren sie anders gewandet. Mal sehen, ob beide morgen eine weitere Robe Europa präsentieren. Da gefühlt alle in der Halle den Song mitgesungen haben, war mir eine objektive Beurteilung nicht möglich. Vielleicht wäre sie das aber ohnehin nicht, denn für mich war und ist „Brividi“ mein persönliches Lieblingslied dieses Jahrgangs.
Selbstredend wird das Kalush Orchestra aus der Ukraine von einer Welle der Sympathie getragen. Und wenn Europa sie als Sieger möchte, dann ist das so. Schade nur, dass ein Wettbewerb etwas seinen Sinn verliert, wenn es um solch gewaltige weltpolitischen Fragen geht und sicherlich Juroren wie Zuschauer sich in einer moralischen Verantwortung sehen. Aber auch dagegen ist nichts zu sagen, so ist es nun mal. Sind wir also gespannt, wer nach der Ukraine auf Platz zwei kommen könnte, und da sind die Chancen auch für das Vereinigte Königreich extrem gestiegen. Es wäre Sam Ryder und dem UK zu wünschen, dass sie zumindest in die Top five kommen, damit auch mal dieser Opfer-Mythos auf der Insel aufhört, dass sie niemand liebhat. Nein, schickt einfach gute Beiträge.
Unser Malik hat eine wirklich schwierige Aufgabe vor sich, so direkt nach der Euphorie, mit der die Ukrainer bejubelt werden, versinkt der deutsche Beitrag geradezu in einem Loch. Besonders schwierig ist es vor allem live in der Halle, denn der Auftritt ist zu 100 % für die TV-Zuschauer konzipiert, wogegen natürlich erstmal gar nichts spricht. Allerdings kann so auch das Publikum vor Ort keine Beziehung zum Künstler auf der Bühne aufbauen. Man sieht so gut wie nichts vom Auftritt, da die Scheinwerfer dermaßen von hinten in die Arena blenden, dass man Malik kaum sieht. Dazu kommt, dass aus dramaturgischen Gründen auch die großen Screens in der Halle dunkel bleiben und man auch da nichts sieht. Entsprechend verhalten ist die Reaktion im Publikum, welches aber wenigstens brav die Taschenlampen schwenkt. Von meinem Platz konnte ich die deutsche Delegation im Greenroom sehen, und Malik ging wirklich bei vielen seiner Kollegen mit. Da er so ein wunderbarer Sänger und Typ ist, würde ich mir so sehr wünschen, dass er zumindest seinen Auftritt genießen kann und er vom ESC in irgendeiner Weise profitieren wird. In den Charts und den Streamingdiensten läuft es für unseren Beitrag ja so gut wie lange nicht mehr.
Etwas enttäuscht werden die Zuschauer heute gewesen sein, denn Måneskin konnten sich nicht herablassen, auf der Probe live aufzuspielen, ihren Part mussten wie schon am Nachmittag Lichtdoubles übernehmen, dies teilte die EBU sehr kurzfristig per Mail mit. Wahrscheinlich möchte die Gruppe vor morgen keine Videos von sich im Netz finden.
Italien ist medial voll auf ESC eingestellt. Am späten Nachmittag habe ich auf RAI 1 noch eine längere Diskussionssendung zum Thema ESC verfolgt, die sich natürlich ausführlich mit dem Ausscheiden Achille Lauros beschäftigt hat. Es wurden aber auch etliche andere Beiträge näher beleuchtet und in typisch italienischem Temperament, sagen wir - besprochen. Ausführlich wurde auch der Beitrag von Raffaella Carrá in Sachen ESC gewürdigt. Schließlich hat sie sich 2011 sehr für den ESC und die Rückkehr Italiens zum Contest eingesetzt und den Italienern den Wettbewerb wieder nähergebracht. Offenbar ist man auch mit den Einschaltquoten der Semis sehr zufrieden, die bei satten 45 % liegen sollen. Vor der Halle gibt es auch jeden Abend das gläserne Studio, welches Zuschauer des Sanremo-Festivals bereits kennen. In diesem Studio wird eine halbe Stunde vor der Show mit den hier üblichen Talkgästen der Festivalklatsch ausgetauscht.
Einige der hierher gereisten Fans finden, dass der ESC im Stadtbild eher unterrepräsentiert sei. Dem kann ich nicht folgen. Ob in allen Bahnhöfen, Plätzen, Bussen und Bahnen, Fahnenmasten oder wichtigen Gebäuden, prangt in verschiedenen Formen das ESC-Logo oder riesige Banner mit Mahmood und Blanco mit dem Schriftzug der Eurovision. Vielleicht war auch meine Erwartungshaltung eine andere, schließlich bin ich davon ausgegangen, dass man sich hierzulande ausschließlich für Sanremo in musikalischer Hinsicht begeistern kann. So bin ich eher positiv überrascht.
Unter den angereisten Delegationen und Pressevertretern grummelte es hinter den Kulissen, was nur zum Teil an manchmal versagender Technik lag, vielmehr an einer Neuausrichtung des Wettbewerbs seitens der EBU. Es ist, das muss man auch sagen, ihr gutes Recht, auch neue Zielgruppen zu gewinnen. Skeptisch bleibe ich dennoch, gerade was die enge Zusammenarbeit mit TikTok angeht. Am Ende wird es die Zeit zeigen, ob die Weichen in die richtige Richtung gestellt sind. Auf jeden Fall hat es mir sehr viel Freude gemacht zu sehen, dass der ESC sehr lebendig ist und auch außerhalb unserer schnuckeligen Blase den Menschen Spaß macht. In diesem Sinne wünsche ich allen ein wundervolles Finale!!!